Wenn nachts das Handy dreimal klingelt und das Display eine Nummer aus Zypern zeigt, kann es nur Barbara sein. Andere Menschen liegen für gewöhnlich um Mitternacht im Bett und schlafen, wie ich es getan habe. So dauert es denn auch ein Weile, bis ich begreife, was Barbara mir mit einem für sie eher atypischen Redeschwall sagen will: Es gibt einen Notfall, bitte fahre 2 Zypernhunde, die über Köln nach Berlin müssen, von Köln bis Hannover und übergebe sie an Petra, die Dir von Berlin entgegenkommt. Alles klar? Super, Renate, Du machst das? Prima, dann ruf doch jetzt Petra an, wann und wo Ihr Euch trefft.
Brav rufe ich um Mitternacht (!!) eine Unbekannte in Berlin an, die schon nach zweimaligem Klingeln abhebt. Als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt, besprechen wir, wann und wo wir uns treffen können und einigen uns auf Mittwoch. Alles andere wird sich finden.

Ich gehe wieder ins Bett, der Mann an meiner Seite liegt im Tiefschlaf und sägt kleine Bäume. Da ich eh hellwach bin (Danke, Barbara!), kann ich auch jetzt schon mal darüber nachdenken, wie das gehen soll mit dem Transport. Bis Hannover sind es 300 KM Autobahn, eine Baustelle nach der anderen und meistens Stau ohne Ende. Super! Und dann zwei Hundis auf der Rückbank, von denen ich nicht weiß, wie die überhaupt ticken. Und ich vorne am Steuer, zwar mit viel Hundeliebe, aber ohne wirkliche Hundeerfahrung. Ich habe keinen Hundegurt, kein Geschirr, für 2 Boxen ist mein Auto viel zu klein. Ich bin drauf und dran, Barbara wieder anzurufen und zu sagen, tut mir leid ich kann doch nicht. Doch dann ist sie da, meine Idee... Und je länger ich darüber nachdenke, desto zuversichtlicher bin ich. Da muss einfach was gehen!!
Am nächsten Morgen im Büro erzähle ich – völlig beiläufig, versteht sich - dass ich am nächsten Tag einen Hundetransport nach Hannover machen muss. Und was soll ich sagen? Der Chef, der gaaanz zufällig am selben Tag mit seinem Fahrer zu einem Geschäftstermin in eben diese Stadt muss, bietet spontan an, man könne mich mit den Hundis doch mitnehmen. Geht doch! Halleluja!
Mittwoch mittag werde ich von 2 wohlgekleideten Herren in der dunklen BMW-Limousine abgeholt. Im Gepäck habe ich Wasser, Napf, Kuscheltiere und ein wunderbar flauschiges Hundebett, bestehend aus einer Zudecke (Übergroße), bezogen mit Biberbettbezug in frühlingshaften Farben. Die Knopflöcher habe ich mit Bändseln versehen, um das Teil an den Kopfstützen befestigen zu können. Damit hoffe ich, sozusagen zwei Fliegen mit einer Klappe zu erschlagen: An erster Stelle natürlich Wohlfühlatmosphäre für die Hundis, und an zweiter Stelle Schutz der edlen Lederbezüge vor ....  Es geht zu Melanie, die kostbare Fracht abholen. Lucy und Tommy begrüßen mich überschwänglich. Ich nehme von Melanie die Papiere und eine Kurzcharakterisierung der Hunde entgegen: Lucy schmusig, ruhig, Tommy extrem schmusig und das Gegenteil von ruhig. Täusche ich mich, oder ist Melanie trotz Abschiedsschmerz auch ein kleines bisschen erleichtert, als wir vom Hofe fahren?
Lucy nimmt mein Angebot an und schläft auf der Stelle auf meinem Schoß ein. Tommy hingegen klebt förmlich an der Autoscheibe, hechelt, zittert am ganzen Körper und ist durch nichts zu bewegen, sich hinzulegen. Ich leide mit Tommy und weiß doch nicht, wie ich ihm helfen soll. Ich verstehe ja, dass die schnellen Bewegungen da draußen ihm Angst machen müssen. Als dann die erste Baustelle kommt und wir die LKWs mit Miniseitenabstand überholen müssen, ist es mit Tommy vollends vorbei. Er hechelt, man sieht sein Herzrasen durch die dünnen Rippen, der Speichel trieft in Strömen aus seinem Maul. Ich kriege langsam wirklich Angst um ihn und sage nach vorne: Ich glaub wir müssen hier abbrechen und zurück. Aber was soll dann werden? Also versuche ich nochmal, Tommy zu bewegen, wenigstens den Kopf runterzunehmen. Dann liegt er da, gottergeben, ein armes Häuflein Elend, die triefende Schnauze auf der Armlehne. Nach 150 KM bitte ich um eine Pause, weil Tommy wieder am Rad dreht. Wir fahren einen Parkplatz an, Tommy pinkelt wie ein Weltmeister, wir gehen ein paar Mal auf und ab, ich gebe ihm zu trinken, und dann steigt er freiwillig und ohne Zwang wieder ins Auto. Ich hege die kurze Hoffnung, dass seine Unruhe vielleicht auf die volle Blase zurückzuführen war. Aber das war es offensichtlich nicht. Kein gutes Zureden, kein Streicheln, kein Anbieten von Kuscheltier bringt ihn von der Scheibe weg. Schließlich habe ich wenigsten eine hilfreiche Idee: Ich klemme Papier zwischen Scheibe und Sonnenblende. Daraufhin wird das Hecheln und Speicheln und Zittern ein klitzekleines bisschen weniger. Ich fühle mich wie eine miese Tierquälerin und erzähle ihm und mir selbst, dass er diese Tortur bitte, bitte nur noch ein paar Stunden aushalten muss, bevor sein neues Leben beginnt. Noch nie sind mir die Stunden von Köln zur Raststätte Hannover Garbsen so lang geworden.
Als wir eintreffen, sind Petra und ihre Freundin Eva seit 2 Minuten ebenfalls da. Wenigstens das Timing war perfekt. Die beiden sitzen gerade mit einem Kaffee in der Raststätte. Lucy geht mit meinem Chef spazieren, ich nehme Tommy an die Leine. Und dann passiert's. Ich höre einen Ratsch, schaue instinktiv oder durch göttliche Eingebung (Danke, lieber Gott!) auf die Leine und sehe mit Entsetzen, dass sie halb durchgerissen ist. Runterbeugen, ins Halsband greifen, Brille von der Nase fliegen, alles in einer Bewegung. Das wäre noch der Supergau gewesen! Gott sei Dank kommen in der Sekunde Petra und Eva, sie haben eine stabile Leine und sogar ein Brustgeschirr dabei. Als Tommy gesichert ist, zittern mir die Knie, und ich würde mich am liebsten hinter den nächsten Busch verkriechen, um ein bisschen zu heulen.
Lucy und mein Sorgenkind begrüßen Petra und Eva mit ebensolcher Freude wie mich ein paar Stunden zuvor und klettern dann genau so selbstverständlich in deren Auto. Mit Neid sehe ich, wie ihre Rückbank ausgestattet ist: Mit Hundewanne und Hundegurten. Das unterscheidet eben den Willigen vom Fähigen! Während der Fahrt telefonieren wir noch einmal übers Handy. Petra berichtet, Tommy habe sich gerade abgelegt und sei zur Ruhe gekommen. Abends spät erfahre ich, dass diese „Ruhe" gerade mal 5 Minuten gedauert hat, und dann ging es wieder los.
Armer, lieber Tommy, Du bist so schön, so sanft, so menschenbezogen! Du hättest ohne Weiteres nach mir schnappen können in Deiner Panik, als ich immer wieder versuchte, Dich nieder zu drücken, Dich von der Scheibe wegzuholen. Aber da war absolut nichts an Aggression in Dir! Ich kann nur erahnen, was Du durchgemacht hast: Von Deinem reizarmen Leben im Halbdunkel der Siriushalle mit Lärm und Gestank diese Überflutung mit Unbekanntem. Nach den beängstigenden Eindrücken des Fluges, dem Zwischenstop bei Melanie, der zu kurz war, um allein das zu verarbeiten, noch die mindestens 6-stündige Autofahrt, das alles musste für Dich zu viel sein! Von ganzem Herzen wünsche ich Dir, dass Du jetzt ganz schnell zur Ruhe kommst bei Deinem neuen Pflegefrauchen, die Dir ein wunderbares Leben zu bieten hat: Liebe, Sicherheit, eine vierbeinige neue Hundefreundin, ein Haus mit einem riesengroßen, eingezäunten Garten und dahinter Felder und Wälder. Und endlich auch Luft und Sonne und Gerüche, wie nur die Natur sie zu bieten hat. Ich bin sehr gespannt, wie es mit Dir weitergeht, mein lieber Tommy!
Zum Schluss danke ich meinem lieben Chef und meinem lieben Fahrer-Kollegen für die riesengroße Unterstützung. Ohne Sie hätte ich bei diesen Hundis keine Chance gehabt, alle miteinander heil nach Hannover zu kommen.